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Einbaum (1997)

1997 hatten meine Eltern, Gertraud und Gerhard Gerber, mit ihrem Kanadier „Mops“ auf der Unterhavel bei Spandau interessante Begegnungen mit einem in der Entstehung befindlichen „Einbaum“:

Erbauer des Einbaums war Herr Giselher Forstreuter. Dieser hat ihn aus einem Baumstamm per Hand und ohne Einsatz von “Maschinen” selbst geschaffen. Mein Vater hat hier einen Hammer in der Hand. Es ist auch gut möglich, dass mein Vater da eine Kleinigkeit mitgeholfen hat, denn er war gerade auch holzhandwerklich „gut drauf“ und da sie ja oft mit „Mops“ dort unterwegs waren, würde mich dies jedenfalls nicht wundern.

Das Bild unten zeigt dann den fertigen „Einbaum“.

 

Forstreuter, scheinbar bzw. vielleicht (auch) ein Lebens-Performancer (?), sein stellte seinen Einbaum dann auch in Kunstausstellungen aus.

H.-M. Klemt schrieb 1999 im Oder-Anzeiger (es gab diesen von 1992-2008) über Forstreuter:

20.03.1999: Ein unerwartetes Geschenk

Noch immer ist Frankfurt (Oder) eine Kunststadt. Es ist einer Verflechtung von persönlicher Initiative, Beharrungsvermögen, Sponsorenunterstützung und schließlich auch öffentlicher Förderung zu danken, wenn die Stadt mit Personalausstellungen von Otto Dix bis Alfred Kubin, mit Werkschauen der Moderne und vielem mehr aufwarten kann. In ganz besonderem Maße aber gilt dies für das Projekt „Meine Welt“ [vermutlich: Meine Welt – 2. Kunst-Biennale 1999, Künsterlinnen und Künstler aus dem Land Brandenburg und Berlin, die anders sind], die einzigartige Biennale behinderter Künstler aus Berlin und Brandenburg im April.
Ins Leben gerufen wurde sie vor mehr als zwei Jahren durch die Galeristin Renate Witzleben und das Frankfurter Wichernheim. Inzwischen kümmert sich eine vierköpfige Arbeitsgruppe um den Fortgang dieser arbeitsintensiven Unternehmung. Im April werden die Ergebnisse der jüngsten Ausschreibung im Rathausfestsaal zu sehen sein. Der Ausstellungstitel ist ein ästhetisches Programm. Dabei geht es nicht nur um die Konzentration auf die sogenannte Art Brut, die aufgrund ihrer Authentizität, ihres ungebrochenen Gefühls- und Phantasiereichtums längst einen gleichberechtigten Platz neben anderen Stilrichtungen einnimmt. Es geht vor allem um ein Programm der Integration, um das Verlassen einer Nische, in der viele der beteiligten Künstler existieren. Und es geht um unsere eigene Lebensqualität. „Meine Welt“-Initiaorin Renate Witzleben und der Kunstwissenschaftler Armin Hauer sind für die neue Schau mehr als zehntausend Kilometer quer durch Brandenburg und Berlin gefahren. Sie haben sich mit einer künstlerischen Vielfalt vertraut gemacht, die ohne sie vielleicht unentdeckt bliebe. Das allein wäre Anlaß genug für seelische Beunruhigung und förderliche Irritation.

Doch sind da ja auch die Schicksale der Maler, Plastiker und Gestalter. Zum Beispiel das von Giselher Forstreuter aus Berlin, der von sich selber sagt: „Ich bin ein großes Kind.„ Ich sehe, wie der Hüne sich in die Riemen legt in seinem selbstgezimmerten Einbaum, sehe das rotlackierte Gefährt bei Spandau die Berliner Gewässer pflügen, sehe, wie bei der monatelangen Arbeit des früheren Tischlers und Schiffszimmermanns das grobe Holz sich fügt zu einer Symbiose aus Geschichte, Kindheitsträumen und Reaktionen auf den Lebensstil der Industriegesellschaft. Forstreuter setzt kompromißlos seine Prioritäten. Er setzt seinen Begriff von Zeit gegen das hektische, statusheischende Treiben um sich herum. Er trotzt mit seiner blonden Mähne und seinem Wikinger-Outfit all dem, was auch wir längst als zerstörerisch begriffen haben. Im Unterschied zu den allermeisten von uns aber beugt er sich nicht. Das ist verrückt. Das ist eine Chance für uns, die engen Grenzen unserer vermeintlichen Normalität auszuloten und zu überschreiten.

Deshalb ist „Meine Welt„ eben nicht nur eine Ausstellung, sondern ein unerwartetes, kostbares Geschenk.

Im Rückblick zur 2. Biennale weist er noch auf folgendes Detail hin:

Vergessen sind zehntausend Kilometer Autoreise durch Brandenburg und Berlin, die Renate Witzleben und Armin Hauer auf sich nahmen, der Kraftakt, Giselher Forstreuters tonnenschweren Einbaum nach Frankfurt zu holen, und all die anderen Mühen, damit die Biennale stattfinden kann.

Und später, zur 4. Kunst-Biennale in Frankfurt/Oder, ergänzt Klemt:

Giselher Forstreuter, dessen in 55 Tagen gezimmerter Einbaum wohl das Prachtstück der Exposition bildet, und von dem auch eine Reihe Collagen zu bewundern sind, sagt von seinem Arbeiten, da sie aus der Sehnsucht nach Freiheit entstanden, da er dieser Sehnsucht näherkam, indem er ihr künstlerischen Ausdruck verschaffte. Eine andere Philosophie, eine andere Anschauungsweise, die durchaus einen bewussten Reflex auf die sogenannte moderne Gesellschaft darstellt, wird hier nicht nur geschildert, sondern auch gelebt: Doch wenn der graumähnige Künstler mit seinem Einbaum über die Havel rudert, holt ihn die Zivilisation ein. Er behindere mit seinem schwerfälligen Gefährt den Verkehr auf der Wasserstraße. Außerdem fehlt ihm der offizielle Anlegeplatz in einem Sportboothafen, meint die Wasserschutzpolizei und dort wiederum wünscht man sich nicht unbedingt mit der bloßen Axt zurechtgehauene Baumstämme als Aushängeschild der Wasserwanderei.

Was und wer behindert und Behinderung ist, darüber ließe sich trefflich streiten, doch um das zu können, brauchen Menschen erst einmal die Chance, vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. „Meine Welt“ ist eine solche Gelegenheit. „Wir wollten keine Ausstellung von Außenseitern machen, sondern Integration ermöglichen, das Verlassen der Nische“, so Initiatorin Renate Witzleben. Das lebhafte Interesse an „Meine Welt“ gibt ihr recht.

Die „Meine Welt 4. Kunst – Biennale“ fand vom 26.01.2003 bis 09.03.2003 im Museum Junge Kunst in Frankfurt/Oder statt. Den Katalog zur Ausstellung habe ich mir für die Erstellung dieser „Einbaum-Seite“ – in der Hoffnung dort vielleicht ein Foto zu finden – besorgt. Leider  wird Forstreuter und sein Einbaum im Katalog jedoch nicht genannt. Den 1999er-Katalog der 2. Biennale habe ich nicht.

Im Jahr 2005 war Forstreuter auch in der Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ in der Landesvertretung Brandenburg vertreten. Dort hieß es über ihn:

Giselher Forstreuter ist mit seinen großformatigen Collagen vertreten, die von Fernweh, Reisen, Erlebnissen erzählen und einen ca. 4m langen mit einem großen Segel besetzten Einbaum, den er aus einem Stück mit seiner Axt gebaut hat und der sonst an der Zitadelle in Spandau liegt. Der Einbaum wird am 14.01.2005 vom Gartenbauamt Spandau in die Landesvertretung transportiert – ein sicher ungewöhnliches Ereignis.

 

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Was aus Giselher Forstreuter und seinem Einbaum wurde, ist mir nicht bekannt. Vielleicht befindet sich der Einbaum ja in einem Museum?

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Fand schon einmal ein Einbaum Einzug in die Kunstwelt? Ja, 1973, ein Foto davon hier. Wikipedia:

Heimholung des Joseph Beuys
Die Heimholung des Joseph Beuys war eine FluxusPerformance des Künstlers Anatol Herzfeld am 20. Oktober 1973 auf dem Rhein in Düsseldorf. Die Aktion bestand aus einer Flussüberquerung in einem Einbaum. Außer Herzfeld selbst, einigen seiner Kommilitonen und Mitgliedern eines Düsseldorfer Kanu-Clubs nahm der Künstler Joseph Beuys persönlich daran teil. Als Protest sollte die Aktion auf die mehr als ein Jahr zurückliegende Entlassung von Beuys aus dem Lehrbetrieb der Kunstakademie Düsseldorf öffentlich aufmerksam machen.